Textauszüge

1  Jessy und Ellen

«Wo bin ich? Wo ist meine Mama?»
Jessy hatte die Augen aufgeschlagen und blickte in ein fremdes Gesicht.
«Hab keine Angst, ich bin Ellen, ich bin für dich da, um dir zu helfen.»
«Mama, ich will zur Mama, wo ist sie, wo ist Papa?»
Ellen nahm Jessys Hand und blickte sie ruhig an. «Sie kommen später, hab ein wenig Geduld. Jetzt bist du hier, in der neuen Welt.»
Jessy blickte um sich. Ganz hinten im Raum sass eine Frau in einem lila Gewand und spielte auf einer Harfe. An der Wand sprudelte Wasser aus einem lustigen Brunnen: Um das Brunnenbecken herum schwirrten ein paar goldgelbe kleine Vögel, und jedesmal, wenn sie ihren Schnabel ins Wasser tauchten, erklang ein feiner Ton und schoss aus einem goldenen Röhrchen ein silbrig glänzender Wasserstrahl. Mitten im Raum standen grosse und kleinere Vasen, alle gefüllt mit bunten Blumensträussen, und um die Blüten herum schaukelten seltsame Schmetterlinge, leuchtender, als Jessy es je gesehen hatte. Die Decke war bemalt mit Elfen, Gnomen und Engelchen, fast so, wie sie es einmal in einem Märchenbuch abgebildet gefunden hatte. Und sie selbst lag in einem richtigen Himmelbett. Dass das ein Himmelbett war, wusste sie genau, denn ihr Vater hatte ihr einmal ein solches bei einem Besuch auf einem alten Schloss gezeigt. Eine echte Prinzessin hatte früher darin geschlafen.
«Ellen, sag mir, wo bin ich. Und wo ist Mama?»
«Ich sagte dir schon: Du bist in der neuen Welt. Dort kommen alle Menschen hin, wenn sie gestorben sind. Mama und Papa kommen auch, hab nur ein wenig Geduld.»
«Ja, bin ich denn tot?», fragte Jessy voller Angst.
Ellen konnte das Lachen nicht verbeissen. «Du siehst doch, dass du nicht tot bist. Niemand ist tot. Du bist nur gestorben, aber das ist nichts Besonderes. Und darum bist du nun in der neuen Welt. Du hast ziemlich lang geschlafen, und in dieser Zeit habe ich hier auf dich aufgepasst, damit dir nichts passiert und du nicht erschrickst, wenn du aufwachst.»
«Aber weshalb soll ich denn gestorben sein? Ich habe doch mit meiner älteren Schwester Linda und unserem kleinen Kater Kimi gespielt.»
«Das habe ich auch gesehen», sagte Ellen, «aber du bist dem Kimi nachgerannt und hast nicht auf die Strasse geschaut. Es war ein grosses Unglück. Der Autofahrer konnte nicht mehr bremsen. Alle waren sehr traurig.»
Jessy begann zu weinen. «Ich will heim zur Mama, und zum Papa und zu Linda und zu Kimi.»
«Du bist jetzt hier daheim», sprach Ellen, «wer einmal hier angekommen ist, kann nicht so schnell wieder fort.» Dann wischte sie ihr die Tränen ab und sprach: «Ich will dir etwas Lustiges verraten. Wir haben hier draussen im Garten einen Ausguckturm. Ganz zu oberst gibt’s ein Wunderfernrohr. Du kannst mit ihm reden, so wie du zu Mama und Papa und Linda gesprochen hast, und es versteht dich genau so, wie dich Mama und Papa und Linda verstanden haben.»
«Kimi hat mich auch verstanden», sagte Jessy.
«Das will ich dir gerne glauben», antwortete Ellen, «aber in unserer Welt verstehen nicht nur die Menschen und die Tiere alles, was man zu ihnen sagt, sondern auch alle Dinge: die Bäume, die Häuser, die Blumen, die Tische, die Stühle und eben auch das Fernrohr. Alles ist lebendig. Totes gibt es nur auf der Erde.»
«Und was soll ich denn zum Fernrohr sagen?», fragte Jessy.
«Du kannst ihm sagen, was es dir zeigen soll auf der Erde, und vielleicht erfüllt es dir den Wunsch», entgegnete Ellen.
«Ich möchte Mama und Papa und Linda sehen, und Kimi.»
«So komm!» Ellen reichte der Kleinen die Hand, und gemeinsam verliessen sie den Raum.
Draussen kamen sie in einen ausgedehnten Park. Zwischen prächtigen Bäumen und grünen Rasenflächen blühten in sorgfältig gepflegten Beeten die seltsamsten Blumen. Dazwischen spazierten viele Menschen, einzelne allein, manche in kleinen Gruppen. Einige hatten sich in den Rasen gesetzt und plauderten miteinander. Und zwischen den Leuten weideten Schafe, Ponys, Rentiere und eine Löwenfamilie, die offensichtlich am Grasfressen Spass gefunden hatte. Jessy blieb stehen und staun­te, wie sie in ihrem ganzen Leben nie gestaunt hatte. «Nicht wahr, Ellen», bemerkte sie, «das ist jetzt doch der Him­mel.»
Ellen lachte laut heraus, und als sie sich erholt hatte, sagte sie: «Jessy, ich muss dir eine kleine Geschichte erzählen. Ein Zwerg hatte Zeit seines Lebens in den Bergen unter dem Boden gelebt und wollte, als er alt geworden war, endlich einmal das Meer sehen. So kroch er aus seinem Loch zwischen zwei Baumwurzeln und trippelte hinunter über die Wiese gegen ein Haus. Hier hatte sich in einer Grube ein wenig Wasser angesammelt, und darin schwam­men ein paar Wildenten, um sich während ihrer Reise auszuruhen. Als der Zwerg den Tümpel sah, rief er in grosser Begeisterung: Endlich habe ich das Meer gesehen, das ist ja wunderbar, sogar Vögel können darin schwimmen. Und dann kehrte er zurück und erzählte allen andern Zwergen, wie grossartig das Meer sei und wie glücklich er sich fühle, nun endlich auch das Meer gesehen zu haben.»
«So ist das also», sagte Jessy kleinlaut, «ich hatte schon geglaubt, im Himmel zu sein. Wie kommt man denn da hin?»
«Niemand hier weiss, wie und wo der Himmel genau ist, aber alle wissen, dass sie nur hinkommen, wenn sie etwas tun.»
Jessy sperrte den Mund auf, als wollte sie sagen: Das ist doch nicht möglich. «Das enttäuscht mich aber», sagte sie, «ich möchte lieber spielen. Es hat mich immer geärgert, wenn mich Mama und Papa arbeiten hiessen.»
«Nimm’s nicht tragisch», bemerkte Ellen, «hier schickt dich niemand an die Arbeit, und spielen kannst du, so lange du willst – wenn es dir Spass macht in alle Ewigkeit.»
«Das beruhigt mich. Bitte, Ellen, führe mich auf einen Spielplatz.»
«Und was ist mit dem Wunderfernrohr auf dem Ausguckturm? Du wolltest doch Mama und Papa und deine ganze Familie sehen.»
«Ja, du hast recht, Ellen, zuerst das Fernrohr und dann der Spielplatz!»
Ellen nahm Jessy bei der Hand, und sie schritten über weichen Rasen und zwischen Büschen, Blumen und hübschen Weihern einen kleinen Hügel hoch, wo ein Turm alle Gebäude und alle Bäume weit überragte.
«Das ist aber komisch», sagte Jessy nach einer Weile, «wenn wir über die Wiese und auf den Wegen gehen, hört man überhaupt nichts von unseren Schritten.»
«Ja, gewiss, da, wo wir sind, ist vieles anders als auf der Erde. Geräusche hört man in dieser Gegend nur, wenn man sie hören will. Das ist so, damit die Musik besser klingt. In unserem Gebiet sind auch Lautsprecher verboten. Musik gibt’s nur, wenn sie jemand selber macht.»
«Das enttäuscht mich schon wieder. Kassetten und CDs hören war mein liebstes Hobby. Papa hat mir zum neunten Geburtstag eine tolle Anlage gekauft. Wenn ich die voll aufdrehte, hielt sich Mama sogar die Ohren zu.»
«Ich sagte dir schon», entgegnete Ellen, «hier ist vieles anders. Aber es gibt schon Gegenden, wo die Leute Stereoanlagen besitzen und laute Musik hören. Du müsstest dir aber jemand anders suchen, der mit dir dorthin geht und dir die Dinge erklärt, denn die schrillen Töne machen mich krank. Aber wenn du willst, kannst du auch allein hingehen und dich umsehen. Jeder kann machen, was er will, bloss nicht überall.»
Jessy war plötzlich still geworden, und so schritten sie wortlos gegen den Ausguckturm.
«Gibt’s hier einen Lift», fragte Jessy, als sie auf dem Hügel angekommen waren.
Ellen gab nicht gleich Antwort. «Es ist nicht einfach zu erklären», sagte sie, «es gibt so etwas wie Lifte, aber die muss man in sich selber haben. Das kriegt man nicht gratis. Ich gehöre zu jenen, die den inneren Lift benützen kön­nen, wenn sie wollen.»
«Oh, zeig mir das!», rief Jessy begeistert, «zeig, wie du hoch fährst.»
Ellen schloss für ein paar Augenblicke die Augen, breitete die Arme aus und löste sich sachte vom Boden. Und dann schwebte sie hoch, immer höher, bis sie den höchsten Punkt des Ausguckturmes erreicht hatte.
«Das ist Spitze», rief Jessy, «das musst du mir auch beibringen!»
Ellen gab jedoch keine Antwort, sondern schwebte wieder langsam herunter. Dabei umrundete sie den Turm einige Male und erreichte schliesslich dicht neben Jessy den Boden. Jessy klatschte vor Begeisterung in die Hände und bettelte voller Ungeduld: «Bring mir das bei, bitte, bring mir das bei!»
«Das ist noch zu früh», sagte Ellen und nahm Jessy bei der Hand. Langsam stiegen sie die vielen Treppenstufen hoch, bis sie oben ankamen und einen herrlichen Ausblick über die Gegend geniessen konnten. Jessy konnte nicht verstehen, dass es möglich war, ringsum so weit zu sehen. Als sie noch auf der Erde war, durfte sie einmal mit Papa und Mama mit einer Schwebebahn auf einen Gipfel fahren, der so hoch war, dass der Schnee auch im Sommer nicht schmolz. An jenem Tag war wunderbar klares Wetter, weshalb man weit über das Land blicken konnte. Aber die Sicht, die Jessy hier auf dem Ausguckturm genoss, war unendlich gewaltiger, weshalb sie ausrief: «Ei, wie gross doch der Himmel ist!»
«Ich sagte dir doch schon, das sei nicht der Himmel», bemerkte Ellen, «und was du hier siehst, ist nur ein winziges Teilchen des Ganzen. Nimm ein Stäubchen, das man kaum von blossem Auge sieht, und vergleiche es mit einem gewaltigen Gebirge – dann hast du etwa das Verhältnis.»
Jessy war wieder still geworden. «Ich glaube, das ist das Fernrohr», sprach sie nach einer Pause und zeigte auf ein Guck­­instrument, das in der Mitte der Plattform stand. «Guten Tag, liebes Fernrohr, wie man mir sagt, kannst du mich verstehen.» Aber das Fernrohr blieb stumm, und Jessy blickte Ellen enttäuscht und vorwurfsvoll an.
«Ich habe ja nicht behauptet, das Fernrohr könne sprechen, ich sagte bloss, es könne dich verstehen. Das sind zweierlei Dinge. Am besten ist es, wenn du ihm deine Wünsche mitteilst», sagte Ellen.
«So zeig mir sofort meine Mama, aber schnell!», rief Jessy und blickte durchs Rohr. «Da ist alles dunkel», sprach sie enttäuscht, «du hast mich zum Narren gehalten.»
«Wenn du auf diese Weise mit ihm sprichst, musst du dich nicht wundern, dass es bockt. Es ist eine ganz andere Sprache gewohnt.» Ellen lachte verschmitzt, als sie dies sagte.
«Aha, ich verstehe», antwortete Jessy, «also anders: Liebes Fernrohr, bitte, sei doch so nett und zeige mir meine liebe Mama!» Kaum hatte Jessy diese Worte gesprochen, schwenkte das Rohr ein gutes Stück zur Seite und neigte sich schräg nach unten.
«Das ist ja toll!», rief Jessy begeistert, «will mal sehen, ob’s auch funktioniert.» Sie guckte hinein, aber schon nach einem kleinen Augenblick begann sie zu schluchzen, und die Tränen kollerten über ihre Wangen. Ellen fasste sie an der Schulter und drückte sie an sich.
Lange sagte keines ein Wort. Dann streichelte Jessy das Fernrohr, als wollte sie ihm danke sagen, und wandte sich an Ellen: «Mama war gerade auf meinem Grab. Sie hat Blumen in die Vase gestellt, dann ihre Fäuste vor die Augen gepresst und geweint. Oh, wenn ich doch zu ihr zurückkehren dürfte. Bitte, Ellen, bitte, lass mich zu ihr zurück.»
«Ich würde es tun, wenn ich könnte, aber es geht leider nicht. Wer einmal in unsere Welt hinüber gekommen ist, muss bleiben. Ich habe zwar schon erzählen gehört, man könne nach einer langen Zeit wieder auf die Erde, aber dann müsse man neu anfangen. Ich weiss darüber zu wenig. Nimm es, wie es ist: Du bist hier. Mama bleibt auch nicht ewig weg.»
Jessy wandte sich wieder dem Fernrohr zu: «Liebes Guckröhrlein, zeig mir doch bitte, bitte, unser Kätzlein Kimi!» Das Rohr bewegte sich kaum, weshalb sie schon befürchtete, es könnte seine Bitte nicht verstanden haben. Doch als sie hindurch blickte, sah sie, wie der kleine Katzenlausbub gerade den Papa belästigte, weil er ihm ständig über die Tastatur seines Computers lief und mit seiner wirren Tastendrückerei alles durcheinander brach­te. «Noch einmal, Kimi», schimpfte der Vater, «und dann setz ich dich vor die Türe!» Aber Kimi war eben noch auf der Erde und noch nicht im jenseitigen Land, und darum verstand er nicht, was ihm Papa sagte. Er setzte sich auf den Drucker und nahm dann einen gewaltigen Sprung, mitten auf die Tastatur. Der Papa war daran, der Tante einen Brief zu schreiben, und war gerade an der Stelle, wo es hiess «Ich will dir nur eines sagen, liebe Tante: …» und dann tippte Kimi mit seinen Pfötchen: «waesnmkl.» «Nein, Kimi», lachte nun der Papa, «das will ich der Tante wirklich nicht sagen, und darum gehst du nun gleich hinaus in den Regen. Dort kannst du warten, bis ich dich wieder hereinlasse.» Papa packte den Störenfried, setzte ihn auf den Teppich vor dem Eingang und schloss die Türe. Jessy lachte hell heraus und musste Ellen alles erzählen, was sie gesehen hatte.
«Und jetzt geht’s zum Spielplatz, nicht wahr, Ellen», sprach Jessy. Ungeduldig zog sie ihre Betreuerin am Arm. «Nur nicht so stürmisch», entgegnete Ellen, «es gibt hier keine solchen Spielplätze, wie du sie kennst. Das wäre viel zu klein. Darum musst du mir zuerst sagen, was du gerne tätest.»
«Wie wär’s mit einer Rutschbahn? Aber nicht so eine, wie sie im Garten unseres Nachbars steht. Das ist richtig doof. Ich möchte eine, die hundertmal so lang ist und wo einem der Wind um die Ohren pfeift, weil’s so schnell runter geht. Habt ihr so etwas?», fragte Jessy.
Ellen lachte und schritt wieder zum Fernrohr. «Lieber Röhri», sagte sie, «sei doch so lieb und zeig uns das Rutschbahntal.»
«Rutschbahntal!», rief Jessy erstaunt, «was ist nun das wieder?»
«Ach ja, das hab ich dir ja noch gar nicht erzählt. Bei Euch auf der Erde geht eigentlich alles drunter und drüber. Da steht eine Rutschbahn neben einer Schreinerei, daneben hat vielleicht jemand ein Bürohaus gebaut, und nach wenigen Schritten kommst du zu einem Schulhaus und dann zu einer Bäckerei. Wir hier haben es lieber, wenn diese Einrichtungen zu schönen Gruppen zusammengefasst werden. So gibt es zum Beispiel eine Gruppe von Schulhäusern, eine Gruppe von Werkstätten für Handwerker, eine Gruppe von Sportplätzen und so weiter. Und für jede Gruppe gibt es viel Platz, meistens ein weites Tal oder einen ganzen Berg­rücken, wie es eben passt. Dieses Tal, in dem wir uns gerade befinden, ist ein Tal für die Neuankömmlinge. Du siehst doch ringsum die vielen grossen Häuser mit den wunderbaren Parkanlagen. Wenn jemand die Erde verlässt und nicht so recht weiss, was mit ihm los ist, wird er in eines dieser Häuser gebracht, wo er zuerst einmal tüchtig ausschlafen kann. Das Erdenleben ist eben für alle anstrengend und ermüdend. Da tut es schon gut, sich zuerst einmal so richtig ausruhen zu dürfen.»
«Ja, sind denn die vielen Leute da unten, die in den Parks herum spazieren, alles solche Neulinge wie ich?»
«Nein, gewiss nicht. Das sind die Verwandten und Freunde von den frisch Angekommenen und warten, bis diese von ihrem Schlaf erwachen. Wenn du willst, können wir einmal einer solch festlichen Begrüssung zusehen. Es ist immer sehr lustig, wie die Menschen, die nichts von unserer Welt wussten, grosse Augen machen, wenn sie ihre Freunde und Verwandten wieder sehen.»
«Aber weshalb hat mich denn niemand begrüsst?», fragte Jessy enttäuscht.
«Deine Eltern und Grosseltern, aber auch alle Tanten und Onkel und auch alle deine Freundinnen sind eben noch auf der Erde, und deshalb wurde ich dazu ausgewählt, mich um dich zu kümmern», entgegnete Ellen.
«Du meinst also, dass ich dabei sein kann, wenn Papa und Mama zu uns herüber kommen?»
«Ganz bestimmt, nur wird es noch ziemlich lange dauern. Hab ein wenig Geduld.»
Beide wurden still, und nach einer Weile sagte Jessy: «Und wo ist jetzt das Rutschbahntal?»
«Ach ja», sprach Ellen, «wir wollten ja dort hin. Also, lieber Röhri, zeig uns doch bitte das Rutschbahntal!»
Das Fernrohr schwenkte auf die andere Seite, und als Jessy hindurch guckte, rief sie: «Nein, nein, das ist doch nicht möglich, das ist ja ein ganzes Rutschbahnland. Das sind ja Hunderte von Bahnen, die von all den Hügeln und Gipfeln ins Tal hinab führen, hin und her und auf und ab, ich werde toll! Komm Ellen, komm, da müssen wir hin, das ist wirklich der Himmel!»
«Es ist nicht der Himmel, bloss das Rutschbahntal. Und es sind auch nicht Hunderte von Bahnen, sondern genau vierundachtzig.»
«Vierundachtzig, eine komische Zahl! Hundert oder tausend würde besser passen», meinte Jessy.
«Hättest du kürzlich die Zwölferreihe ein wenig besser gelernt, würdest du diese Zahl verstehen», sprach Ellen und schmunzelte.
«Oh, da täuschst du dich aber», protestierte Jessy, «vierundachtzig ist siebenmal zwölf.»
«Eben», bestätigte Ellen, «und beides sind heilige Zahlen. Die gefallen uns besser als zehn, hundert oder tausend, die uns meistens an Münzen oder Banknoten erinnern.»
«Meinetwegen hundert oder vierundachtzig – wenn ich bloss endlich dort hinkomme!», rief nun Jessy voller Ungeduld.
«So komm denn, wir fliegen hin.»
«Fliegen?», fragte Jessy ganz entgeistert, «gibt’s hier in der Nähe einen Flugplatz?»
«Hättest du Spass, mit einem Segler oder auch Motorflieger dorthin zu fliegen, wäre dies schon möglich, aber meistens wählen wir die andere Methode. Diejenigen, die in sich die Kraft für den inneren Lift haben, können auch andere mitnehmen und an all die Orte hinfliegen, die ihnen erlaubt sind. Komm, halt dich an mir fest, dann wirst du es gleich selber erleben.» Und ehe Jessy noch etwas fragen oder einwenden konnte, hatte Ellen sie umarmt und schloss die Augen. Dann hoben sie ab, schwebten hoch hinauf (auf der Erde würde man sagen: hinauf in den Himmel), und dann hörte Jessy für einen Moment ein Zischen oder Rauschen, vielleicht auch etwas wie ein Ohrensausen oder Ohrenpfeifen, und bevor sie sich klar war, was dieses Geräusch oder dieser Ton bedeuten könnte, hatte sie wieder festen Boden unter den Füssen und sah Ellen neben sich stehen.
Sie standen hoch oben und blickten hinab in einen gewaltigen Talkessel. Der war umsäumt von zwölf Hügeln, von welchen je sieben Rutschbahnen in vielen Wellen und Windungen gegen das Zentrum tief unten führten. Jessy glaubte zuerst, jede der Bahnen hätte eine andere Farbe, aber Ellen zeigte ihr, dass die jeweils sieben Bahnen, die von einem Gipfel hinab führten, in den Farben gleich wie ein Regenbogen angeordnet waren: der roten Bahn folgte die orange, dann die gelbe, die grüne, die blaue und die violette, und zuletzt gab es noch –­ nach einem kleinen Abstand – eine graue. Das ganze Gebilde sah fast aus wie die bunten Strahlen eines gewaltigen Sternes, wobei die Strahlen nicht von der Mitte hinaus, sondern in die Mitte hinein führten.
«Dieser grosse runde Platz in der Mitte, wo alle Bahnen zusammenlaufen, ist die Arena», erklärte Ellen, «da ist immer viel los, und das ist meistens viel interessanter als das Hinabrutschen.»
Gleich vor Jessys Augen lagen die Eingänge zu sieben Bahnen. Bei jeder musste man eine kleine Treppe hochsteigen und unter einem Torbogen durchschlüpfen, auf dem in schöner Schnörkelschrift irgendein seltsames Wort geschrieben war. Jessy las laut: «Frohmachbahn, Begegnungsbahn, Wahrsagbahn, Angstnimmbahn, Schicksalsbahn, Einfallsbahn, Sinnlosbahn.»
«Ich weiss nicht, wo mir der Kopf steht», rief Jessy, «was soll dies alles!»
«Mit ein bisschen Nachdenken würdest du wohl selber darauf kommen, was dies alles bedeutet. Aber ich will dir helfen. Bei uns hier macht man im Allgemeinen nichts, das keinen Sinn hat. Also einfach runter rutschen und johlen, wenn’s ein bisschen auf und ab und immer schneller geht, das verleidet rasch, weil es keinen Sinn hat. Wenn du unten in der Arena ankommst, bist du immer noch dieselbe, die du oben beim Einsteigen warst. Aber es gibt natürlich immer wieder Kinder oder auch ältere Jenseitsbewohner, die dasselbe erleben wollen wie seinerzeit auf der Erde, und die steigen dann dort bei der grauen Bahn ein. Du siehst ja, dass sie deshalb Sinnlosbahn heisst. Oft kommt es vor, dass die Leute Schlange stehen, um hier hinabrutschen zu können. Aber die meisten möchten, dass ihre Fahrt hinunter in den Talkessel bei ihnen irgendetwas bewirkt. Schau dort hin zum Eingang der roten Frohmachbahn! Der Bub, den die Frau an der Hand führt, wird immer wieder sehr traurig, weil er seine Mutter vermisst. Sie war auf der Erde sehr verzweifelt und hat an einem Morgen den Buben über eine hohe Brücke hinab gestossen und ist dann selber hinunter gesprungen. Es wird lange gehen, bis sie ihren Kleinen wieder sehen darf. Darum sorgt sich jetzt eine Tante, die drei Jahre früher starb, um den kleinen Jochen. Regelmässig kommen sie hierher zur Frohmachbahn, und jedes Mal, wenn er unten ankommt, geht es ihm wieder viel besser.»
Jessy stand sinnend da und fragte schliesslich: «Weshalb kommt denn seine Mama nicht auch? Gewiss würde es auch ihr nachher besser gehen.»
«Es ist wahr: Jenes Tal, in dem sie wohnt, ist düster und muffig, und seine Bewohner sind allesamt unglücklich. Es ist eben in unserer Welt nicht überall so schön wie hier.»
«Aber da können wir doch hingehen und ihr sagen, sie solle hierher kommen. Dann müsste auch Jochen nicht immer traurig sein», wandte Jessy ein.
«Es ist nicht einfach, diesen Menschen zu helfen. Später, wenn du mehr über die neue Welt erfahren hast, kannst du es vielleicht einmal versuchen, einem solchen Menschen beizustehen. Aber zuvor musst du noch viel lernen. Solange du noch nicht über den inneren Lift verfügst, kommst du ohnehin nicht in jenes düstere Tal hinab.» Ellen wandte sich ab, so dass Jessy spürte, dass sie keine weiteren Fragen stellen sollte.
Dann las Jessy nochmals alle Wörter über den Bahneingängen und sagte: «Aber da sollte es doch auch eine Reichmachbahn geben. Da könnte man einfach hinuntersausen, und schon wäre man Millionär.»
Ellen musste lachen. «Deine Idee ist lustig, aber aus zwei Gründen passt sie nicht. Erstens wüsstest du hier nicht, was du mit dem Geld anfangen solltest, und zweitens wäre das Geld, sofern du es brauchen könntest, etwas, das du dir erarbeiten müsstest. Auf diesen Bahnen ist nur das zu haben, was einem zustösst oder vielleicht auch geschenkt wird. Sieh, dort steigt gleich ein Mädchen, das nicht viel älter ist als du, auf die orange Begegnungsbahn. Sie wird also auf der Bahn oder wahrscheinlich erst unten in der Arena jemandem begegnen, der für ihr Leben wichtig sein könnte. Das bringt Abwechslung in ihr Dasein und hilft ihr wohl auch weiter.»
«Weiterhelfen – das verstehe ich nicht», wandte Jessy ein und blickte dem Mädchen nach, das eben unter dem orangen Torbogen verschwand.
«Du wirst es bald merken, dass du dich nicht glücklich fühlst, wenn du immer gleich bleibst. Wir sind alle unterwegs, auch wenn wir keine Reisen unternehmen. Wir gehen immer weiter, auch wenn wir die Füsse nicht bewegen. Und vielleicht kann uns irgendein Mensch, den wir noch nie gesehen haben, helfen, dass wir weiterkommen.»
«Es tut mir leid, Ellen, aber ich verstehe es immer noch nicht», sagte Jessy traurig.
«Später wirst du es verstehen, und das ist dann ein Zeichen, dass du weiter gekommen bist. – Sieh, dort jene Frau im roten Kleid. Sie hat mir viel aus ihrem Leben erzählt, und darum weiss ich, dass sie sieben Kinder hatte und eine gute Mutter war. Aber sie war in ihrem ganzen Leben voller Angst. Sah sie eine Maus oder eine Spinne, stiess sie einen Schrei aus. Niemals hätte sie einen Lift benutzt oder wäre in ein Schiff gestiegen. Schwimmen lernte sie nicht, weil ihr das Wasser so Angst machte. Einmal hätte sie eine weite Reise machen können, aber sie blieb daheim, weil sie Angst hatte, in ein Flugzeug zu steigen. Seit sie hier ist, versucht sie, ihre Angst abzulegen, und darum benutzt sie immer wieder die grüne Angstnimmbahn. Du kannst dir wohl denken, dass sie allen Mut zusammen nehmen muss, um sich in jene Bahn zu setzen. Aber jedes Mal, wenn sie unten in der Arena ankommt, ist ihre Angst wieder ein wenig kleiner.»
«Mir machen diese farbigen Bahnen plötzlich auch ein bisschen Angst. Ich glaube, zuerst probier’s ich doch einmal mit der grauen, auch wenn sie Sinnlosbahn heisst.»
«Tu das und sei unbesorgt! Es wird dir allemal noch viel grösseren Spass machen als alles, was du auf der Erde erfahren hast», erwiderte Ellen.
Ohne langes Besinnen wandte sich Jessy der grauen Bahn zu und schlüpfte unter dem Torbogen durch. Die Sicht, die sich ihr bot, war unbeschreiblich. Tief, tief unten lag die Arena, in die alle Bahnen einmündeten. Dass ihre Bahn durch farbloses Grau gekennzeichnet war, störte sie nicht besonders. Wichtig war ihr, dass sich der Kanal gewaltig hin und her zog, bald steil, bald flach abfiel und herrliche Kurven aufwies, die so sicher gebaut waren, dass ein Rausfliegen unmöglich war. Beim Einstieg sass ein junger Mann und fragte sie, ob sie mit einem Schlitten, einem Brett, einem kleinen Wägelchen oder einer weichen Bastmatte in den Kanal steigen wolle. Am schnellsten sei das Wägelchen. Gefährlich sei keines dieser Gefährte, aber mit dem Wägelchen zu fahren brauche schon etwas Mut.
«Nein», sagte Jessy, «das geht mir doch zu schnell. Ich wähle die Bastmatte.»
Der Jüngling legte eine Matte in den Kanal, und Jessy nistete sich bequem ein. Dann fühlte sie im Rücken einen kleinen Stoss, und schon glitt sie hinab auf der grauen Sinnlosbahn. Zuerst ging’s sanft abwärts, dann leicht hin und her, dann fast wieder ein bisschen aufwärts und darauf plötzlich steil hinunter, so dass es Jessy fast den Atem verschlug. Sie begann zu jubeln und zu schreien, als sie aber in gewaltigem Tempo gegen eine enge Kurve raste, kreischte sie auch vor lauter Angst. Kaum hatte sie aber die Kurve hinter sich, fand sie das Gefühl, das ihr bei diesem Herumschleudern durch alle Glieder gefahren war, so wunderbar, dass sie sich wünschte, es möchten noch Dutzende, ja Hunderte solcher Kurven folgen. Und tatsächlich: Bald saus­te sie links, bald rechts, bald wurde sie wieder leicht hoch getragen, um sofort wieder steil hinunter gegen die nächste Kurve zu rasen. «Wenn ich erst das Wägelchen genommen hätte, das wäre noch toller!», fuhr es ihr kurz durch den Kopf, aber da sah sie vor sich eine richtige Schanze und versuchte, die rasende Fahrt zu bremsen. Aber nichts wirkte, sie schoss auf den Schanzentisch zu und flog in einem gewaltigen Bogen hinaus in den leeren Raum, immer weiter, als wollte der Flug nie enden. Zuerst schrie sie vor Angst, aber dann merkte sie, wie ihre Bastmatte schön sicher in der Luft lag und keinerlei Gefahr bestand, dass sie hinabfallen könnte. Nach einer Weile sah sie wieder den Boden näher kommen, und sie landete sicher im grauen Kanal, wo sich ihre rasante Fahrt fortsetzte. Schliesslich nahm die Bahn einen letzten grossen Bogen, die Fahrt verlangsamte und kam genau am Ende des Kanals zum Stehen. Als Jessy aufstand, hatte sie kaum noch Augen für all das, was sich in der Arena alles abspielte und wie wunderbar sie gestaltet war. Sie blickte den Hügel hoch, auf dem sie gestartet war, und hatte nur noch einen Wunsch: Sofort wieder oben zu sein und noch und noch hinabzufahren, um dieses herrliche Gefühl immer von neuem zu erleben.
Ellen stand plötzlich neben ihr, ohne dass sie hätte sehen können, woher und wie sie gekommen war.
«Das scheint dir zu gefallen», sagte Ellen.
«Tatsächlich», entgegnete Jessy begeistert, «so was Verrücktes gibt’s auf der Erde nicht. Auf jenen Rutschbahnen stirbt man ja fast vor lauter Langweile. Aber das hier, das nenn ich eine Riesenrutschbahn, eine Riesen-Riesen-Riesen-Rutschbahn − es gibt gar kein Wort für dieses Ding. Du musst unbedingt auch runtersausen, denn das gibt ein Gefühl, das dich vor Vergnügen fast umbringt!»
«Ich kenne das gut, aber ich brauche dazu keine Rutschbahn. Später wirst du noch manches anders sehen und verstehen.»
«Ja, ja, später ist später, und jetzt ist jetzt», rief Jessy ganz ungeduldig, so dass sich viele der Umstehenden, die in andern Bahnen in die Arena gekommen waren, umdrehten, «aber jetzt will ich sofort nochmals hoch und dann nichts wie los mit dem Wägelchen! Komm, ich halte mich an dir, dann kannst du mich hoch fliegen!»
Ellen blickte sie aber ruhig an, löste dann die Hand von der ihren und setzte sich auf eine kleine Ruhebank, die in einer Gebüschnische stand.
«Komm jetzt, Ellen», rief Jessy noch drängender, «ich kann es nicht erwarten, bis ich auf dem Wägelchen sitze.»
Doch Ellen blickte sie bloss ruhig an und sprach dann: «Du siehst ja die Treppe, die der grauen Bahn entlang hoch führt. Geh nur, du kannst dich nicht verirren.»
«Was, ich soll auf jenen Berg steigen? Unmöglich! Da wäre ich ja in zehn Stunden noch nicht dort!», schrie Jessy und begann zu heulen. «Es ist gemein von dir, dass du mich nicht hoch trägst, ja gemein, richtig gemein. Das hätte ich nie gedacht von dir.» Jessy hatte Lust, ihre Begleiterin zu schlagen, und schritt auf die Bank zu.
Aber die Bank war leer.

Aus Kapitel 7
(Nach dem Flugzeugabsturz, bei welchem Jim, sein Vater George und seine Mutter Lena ums Leben gekommen waren, wurde Jim nach seinem Erwachen im Jenseits den beiden Brüdern der Mutter, Samuel und Jakob, in Obhut gegeben. Lena ist deutlich später als Jim vom Eintrittsschlaf erwacht.)

„Lena war hingerissen von dem freundlichen Empfang, den die Verwandten und Freunde ihr nach ihrem Erwachen bereitet hatten. Auf der Erde hatte sie sich stets damit gebrüstet, dass sie nicht an ein Weiterleben nach dem Sterben glaube, denn das seien Kindereien oder Träume von Phantasten. Sie brauche so etwas auch nicht, Schluss sei Schluss und tot sei tot. Vielleicht hatte sie damals ihren Standpunkt auch deshalb so entschieden behauptet, weil sie insgeheim ein schlechtes Gewissen hatte wegen der Art, wie sie lebte, und sich deshalb fürchtete, es könnte nach dem Tod so etwas wie ein Gerichtsverfahren geben. Auf einer Ägyptenreise hatte sie in einem Pharaonengrab auf einem Bild gesehen, wie nach dem Sterben das Herz gewogen wird. Es musste so leicht sein wie eine Feder. War es aber schwer von unguten Gedanken oder bösen Taten, senkte sich die Waagschale, und der Höllenhund nahm es in Empfang. Ihr schauderte vor der Vorstellung, dieses Biest könnte seine spitzen Zähne in ihr Fleisch schlagen und sie in Stücke zerreißen. Und nun, da es sich zeigte, dass man nach dem Sterben durchaus nicht tot war, fand sie es großartig, dass ihr nichts dergleichen widerfuhr, sondern dass sie unvorstellbar festlich empfangen wurde.

Samuel machte den Vorschlag, Lena möge einstweilen in seinen Palast kommen, bis sich für sie entscheide, wo sie wohnen werde. Jakob schloss sich der Gruppe an, und sie begaben sich auf den langen Weg, der zu Samuels Behausung führte. Zuerst schritten sie schweigend nebeneinander her, doch nach einer Weile begann Lena das Gespräch: «Der Empfang war ja wirklich überwältigend, vielen Dank nochmals. Nur die Musik war nicht ganz nach meinem Geschmack. Ich habe zwar früher Violine gespielt, doch in der letzten Zeit hörte ich lieber Jazz. Irgendwie ist das rassiger als dieses Geigengesäusel.»
Samuel antwortete nicht, sondern verzog sein Gesicht zu einem kleinen Schmunzeln und blickte seinen Bruder an.
«Und dass die Wildleberin unbedingt dabei sein musste, war nicht gerade geschmackvoll», fuhr Lena fort. «Es scheint, dass sie mich hier weiter ärgern will.»
«Das siehst du falsch», erwiderte Jakob, «sie ist dir wohl gesonnen und hat dir verziehen.»
«Mir musste die nichts verzeihen, sie war es, die mich immer schikaniert hat. Dass sie sich einmal genau dasselbe Kleid gekauft hat, bloß um mich zu ärgern, verzeihe ich ihr nie.»
«Solche Zänkereien haben hier im neuen Land keinen Platz, Lena», sprach darauf Samuel. «Wer dem anderen nicht verzeiht, schadet sich nur selber.»
«Du bist natürlich einmal mehr auf ihre Heucheleien hereingefallen», gab Lena giftig zurück, worauf die beiden Brüder schwiegen.
«Mama», sagte Jim nach einer Weile, «denk jetzt doch nicht immer an das Vergangene. Schau diese herrliche Landschaft, die Blumen, Bäume, Seen, Berge und Häuser! So etwas hast du gewiss drunten auf der Erde noch nie gesehen.»
«Jetzt guck dir mal diesen kleinen Gernegroß an!», rief Lena aus. «Jetzt will der mich auch noch belehren! Kinder wie du haben zu gehorchen, nicht zu kritisieren.»
«Und trotzdem hat Jim Recht», wandte Samuel ein, «und die lieblose Art, wie du sprichst, wird dich hier unglücklich machen.»
«Um mein Glück brauchst du dich nicht zu sorgen», entgegnete Lena heftig, «lass das meine Sache sein und wisch vor deiner eigenen Türe.»
Wieder gab es eine Pause und wieder fing Jim zu reden an: «Mama, ich habe hier noch niemanden so reden gehört, das passt nicht hierher, und mir tut es weh.»
«Du sollst den Mund halten! Das habe ich dir vorher schon gesagt», fuhr sie Jim unwirsch an und wandte sich dann an Samuel: «Du hast den Jungen schon in kurzer Zeit verwöhnt, darum ist er so frech.»
«Ich habe nichts Freches von ihm gehört», wehrte Samuel ab, «er ist ein ganz lieber Bub und macht gute Fortschritte.»
«Welche Fortschritte er macht, werde ich künftig bestimmen. Der hat nur immer Flausen im Kopf, und die werde ich ihm hier austreiben.»
Die Stimmung war auf den Nullpunkt gesunken. Niemand sagte mehr etwas, aber von Zeit zu Zeit blickten sich die beiden Brüder besorgt an, und Samuel, der Jim an der Hand führte, atmete dabei tief durch.

Aus Kapitel 26

(Jochen, der in seinem Erdendasein von seiner Mutter Elfriede mit in den Tod gerissen wurde, nachdem sie aus Verzweiflung ihren Gatten Horst vergiftet hatte, ist ganz von der Sehnsucht besessen, seine Mutter wieder zu finden. Bei seiner Fahrt auf dem Karussell, begleitet von Jessy,  hat er die Karussellpferde derart angetrieben, dass sie lebendig wurden und ausrissen, um ihn durch die Lüfte in die Nähe seiner Mutter zu tragen …)

Jochen hatte seinen Fuchs während des ganzen Ritts über dem Boden und zwischen den Kronen der hohen Bäume mit der einen Hand wie ein Rasender angetrieben, während er mit der anderen Faust den Zügel von Jessys Schimmel festhielt. Wie sehr Jessy auch weinte und schrie und ihn beschwor, er möge bitte anhalten und umkehren – er hörte nichts und sah nichts und war vollkommen von der Gier besessen, endlich bei seiner Mutter zu sein.
Als das Haus, in welchem seine Mutter bei Lena Wohnrecht hatte, schon von Ferne erkennbar war, rief Jessy plötzlich: «Jochen, pass auf, dort drüben kommt jemand auf einem wilden Tier heran geritten!»
Doch Jochen tat weiter so, als hätte er nichts gehört.
«Sieh doch, das wilde Tier ist ein gewaltiger Wolf!»
Jochen reagierte immer noch nicht.
«Die Bestie ist fast so groß wie ein Pferd, und sie kommt immer näher! Sieh, ein kohlschwarzer Mann sitzt darauf!»
Endlich, als die beiden Ungeheuer schon ganz nahe waren, sah Jochen hin und schrie sofort laut auf vor Entsetzen: «Mein Vater! Fort, fort, mein Vater kommt! Er wird mich umbringen!»
Er wollte die Pferde wenden, aber beide bockten und sanken wie versteinert hinab, und als sie den Boden berührten, verwandelten sie sich wieder in unbewegliche Karussellpferde. Auch der Wolf, der seinen Rachen weit aufgerissen hatte und gewaltige Zähne zeigte, erreichte den Boden, und der Mann stürmte zu Fuß auf die beiden Kinder zu, die noch immer auf ihren hölzernen Pferden saßen.
Jessy begann zu schreien, so laut, wie sie in ihrem ganzen Leben noch nie geschrien hatte, und hielt sich darauf hin beide Hände vors Gesicht, um die grauenhafte Gestalt des Mannes nicht sehen zu müssen. Alles an ihm war schwarz, sogar die Haut, und seine struppigen Haare standen vom unförmigen Kopf ab wie die schwarzen Stacheln eines Stachelschweins. Die Augen lagen in tiefen Höhlen, und gewaltige schwulstige Lippen leuchteten dunkelrot aus seinem finsteren Gesicht. Er schwang drohend seine geballten Fäuste, die eher Schmiedehämmern oder Eisenklumpen als Menschenhänden glichen, und schrie dann mit donnernder Stimme: «Zur Hölle mir dir, Jochen!»
«Ich will zur Mutter!», rief Jochen in äußerster Angst. «Mutter, Mutter, komm, hilf mir, der Vater bringt mich um!»
«Niemals lasse ich dich zu dieser Metze, eher schlage ich dich tot!», donnerte dieser und schritt drohend auf den Knaben zu.
Derweil verharrte Jessy wie versteinert auf ihrem Schimmel und zitterte vor Angst. Jochen sprang von seinem Pferd und wollte fliehen, aber der schwarze Mann war schneller und holte ihn schon nach wenigen Schritten ein. Mühelos erhaschte er ihn und hielt ihn mit eisernem Griff am Handgelenk fest. Dann schnarrte er: «Endlich hab ich dich, du Teufelsbraten! Von nun an wirst du wie ich nur noch Geheule hören und erfahren, was Dreinschlagen heißt.» Dann schritt er zurück zu seinem Riesenwolf und bemühte sich, den Knaben, der sich nach Kräften zur Wehr setzte, auf dem Rücken des Tiers mit einem Strick festzubinden.
Da begann Jessy wieder laut zu schreien: «Hilfe, Hilfe! Mutter, Ellen, so helft doch! O Gott, was soll ich bloß tun?»
In diesem Augenblick erschien ein Licht, hell wie ein Blitz, und Archas stand da in vollem Glanze.

Aus Kapitel 34

«O Himmel!», rief Jessy. «Wie das hier strahlt und schillert und glitzert! Gibt es sowas überhaupt?»
«Wie du siehst, gibt es das», erwiderte Jakob ruhig. «Die Mineralien, Kristalle und Edelsteine haben hier drüben eben einen ganz anderen Glanz als auf der Erde. Das kann man überhaupt nicht miteinander vergleichen. Bedenke auch, dass alles, was hier so leuchtet und funkelt, wirklich lebendig ist. Diese Mineralien zeigen ihr Leben dadurch, dass sie mehr oder weniger intensiv oder dann in einer anderen Farbe oder Farbkombination strahlen. Sie antworten auch auf unsere eigenen Gefühle. Sieh, hier, dieser große Berg- kristall zum Beispiel, der scheint im Moment zu schlafen. Wenn ich aber mit den Fingern fein über seine Flächen streiche, verändert sich seine Farbe.» Jakob fuhr mehrmals mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand über die vielen Flächen und Kanten der großen Kristallstufe, und tatsächlich begannen die einzelnen Kristalle mehr und mehr in einem wundervollen Blau zu leuchten. Dabei wurde deutlich, dass sie nicht fremdes Licht brachen oder widerspiegelten, sondern aus ihrem eigenen Inneren heraus strahlten.
Während sich Jessy und die beiden Onkel noch am meerblauen Bergkristall erfreuten, hatte sich Jim weggeschlichen, denn auf einem Tisch hatte er eine riesige halbkugelförmige Steinschale entdeckt, die ihn in ihren Bann zog und aus der Tausende sehr lange, feine Kristallnadeln emporragten. «Seht nur!», rief er voll Verwunderung. «Die färben sich alle rot!»
«Ein gutes Zeichen», meinte Jakob zufrieden. «Lass sehen, ob sich ihre Rötung noch steigern lässt. Komm, Jessy, fass deinen Jim an der Hand.»
Jessy, die längst gemerkt hatte, dass in diesem jenseitigen Land niemand seine Liebe zu verstecken brauchte, fasste Jim bei der Schulter und drückte ihn an sich. In diesem Moment leuchtete die ganze Kristallschale in einem tiefen Violettrot auf, und zwar so durchdringend, dass augenblicklich der ganze Raum von rotem Licht durchflutet war und Samuel sogar mit einer Hand die Augen abschirmte, um nicht geblendet zu werden.
«Ein wirklich gutes Zeichen», wiederholte Jakob, «denn dies ist ein Liebeskristall. Je stärker die Liebe im Herzen eines Menschen, der sich ihm nähert, desto freudiger antwortet er. Und wie ihr seht, wird er ganz närrisch, wenn zwei Verliebte bei ihm stehen.»
«Erzähl doch den beiden, wie du zu diesem seltenen Stück gekommen bist!», warf Samuel ein.
«Oh, das hat mich viel Arbeit gekostet. Wie lange es her ist, weiß ich nicht mehr so genau, da wir hier ja keine Uhren haben und auch keine Tage und Jahre zählen. Jedenfalls besuchte ich einmal eine Ausstellung von wohl zehntausend Kristallen und Edelsteinen. Auf einem erhöhten Tisch in einer Ecke des großen Raumes lag diese Schale. Ich war sehr verwundert, der Einzige zu sein, der bei ihr stehen blieb und sie bestaunte. Hinter dem Tisch stand ein Mann in einem schneeweißen Gewand, und als ich näher hinsah, spürte ich deutlich, dass es ein richtiger Engel war. Er sprach: ‹Wundere dich nicht, dass du allein hier stehst, denn niemand von allen anderen kann dies hier sehen. Du darfst diese Schale mit den Kristallen haben, aber ich bitte dich um einen Gegendienst: Von der Erde her ist das Gebet einer Frau zu uns gekommen. Ihr Mann hat sein ganzes Leben hindurch gottlos gelebt und liegt jetzt schon seit Wochen im Sterben. Und nun bittet uns die Frau, jemand möge sich die Mühe nehmen, ihm während seines Dahindösens und Träumens gute Gedanken einzuflößen, damit er sich noch vor seinem Ende bessere. Jakob, bitte sei so lieb und übernimm du diesen Auftrag.› Dabei sah mir der Engel so innig bittend in die Augen, dass ich auf keinen Fall nein sagen wollte.»